Gastkommentar

Ist Spanien ein «failed state» – und wie soll die EU mit seinem Mitglied umgehen?

Eine schnelle und massive EU-Finanzhilfe für das Corona-geplagte Spanien ist derzeit nicht verantwortbar. Die Lage ist politisch zu unstabil. Möglicherweise braucht es die Weltbank oder den IMF, um zunächst sinnvolle und förderungswürdige Projekte zu identifizieren.

Friedrich L. Sell
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Aus ihrer prekären Lage können sich die Spanier nur selber befreien.

Aus ihrer prekären Lage können sich die Spanier nur selber befreien.

Emilio Morenatti / AP

«Failed state» – ein vermessener Begriff? Erst vor wenigen Tagen benutzte ihn Iñigo Errejón, Parlamentarier in den spanischen Cortes für Más País, im spanischen Frühstücksfernsehen. Allerdings bezog er ihn noch nicht auf die Zentralregierung oder auf ganz Spanien, sondern zunächst nur auf die lokale Regierung der Region Madrid, die in den letzten Wochen völlig die Kontrolle über die Ausbreitung von Covid-19 verloren hat. Von einem «failed state» spricht man bekanntlich dann, wenn keine der drei Gewalten im demokratischen Rechtsstaat noch das liefert, was die Verfassung und die Menschen von ihnen erwarten: demokratisch legitimierte und zugleich nachvollziehbare Funktionstüchtigkeit.

Verfassungs- und Regierungskrise

Während sich die Aufmerksamkeit der EU-Kommission und auch der deutschen Regierung und Öffentlichkeit bei den Themen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ganz auf Polen und Ungarn konzentriert, spielen sich in der fünftgrössten europäischen Volkswirtschaft, Spanien, gerade ungeheure Dinge ab. Diese lassen sich wie folgt benennen.

Erstens die Verfassungskrise – Monarchie und katalanischer Separatismus: Spätestens seit dem unrühmlichen Abgang von Juan Carlos I. und dessen Flucht – so muss man es nennen – nach Saudiarabien ist Spaniens Monarchie im eigenen Land stark umstritten. Philipp VI. verliert zunehmend an Akzeptanz, einzelne Regionen, wie etwa Katalonien oder das Baskenland, verweigern ihm ganz unverhohlen die Gefolgschaft. Zugleich verfolgt die Regierung Kataloniens, die bestenfalls eine hauchdünne Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert, weiter einen unversöhnlichen Kurs der Abspaltung von Zentralspanien. Das wird ihr durch Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez noch dadurch erleichtert, dass er sich wegen der erforderlichen parlamentarischen Duldung durch die katalanische Linkspartei ERC im Madrider Parlament erpressbar gemacht hat.

Zweitens die Regierungs- und Koalitionskrise: Sánchez hat in den Cortes keine eigene Mehrheit und ist immer wieder auf die Zustimmung von bzw. die Duldung durch Regionalparteien angewiesen (ERC, aber auch Bildu, vor kurzem noch der politische Arm der baskischen Terrororganisation ETA). Die spanische Wirtschaftsministerin, Nadia Calviño von der sozialistischen Regierungspartei PSOE, reklamiert, das Land brauche dringend einen regulären Haushalt. Der letzte stammt noch aus dem Jahr 2018, der Zeit unter der früheren konservativen Regierung von Mariano Rajoy (PP), der unmittelbar nach der gewonnenen Haushaltsabstimmung in einem konstruktiven Misstrauensvotum der PSOE und ihren Verbündeten im Sommer 2018 unterlag. Dies, so Calviño, sei schon deshalb erforderlich, um in Kürze Anträge an den europäischen Wiederaufbaufonds stellen zu können.

Selbst innerhalb der Regierung nehmen die Fliehkräfte ständig zu: Der linksalternative Koalitionspartner Unidas Podemos – hervorgegangen aus der spanischen Occupy-Bewegung – verlangt mitten in der Corona-Krise Steuererhöhungen in Verbindung mit höheren Sozialausgaben. Dem will Sánchez (noch) nicht nachgeben, und er sucht seinerseits das Gespräch über den Haushalt auch mit der liberalen Oppositionspartei Ciudadanos. Die Liberalen lehnen aber höhere Sozialausgaben kategorisch ab und fordern Steuersenkungen. Ciudadanos hat indes nur 10 Parlamentssitze, im Gegensatz zu den 35 von Unidas Podemos. Unlängst hat Pedro Sánchez mit dem Koalitionspartner einen Gesetzentwurf in die Cortes eingebracht, wonach Spaniens Kommunen der Zentralregierung ihre in der Vergangenheit angehäuften Ersparnisse zur Verfügung stellen sollen: ein verzweifelter und zugleich beschämender, wenn nicht unverschämter Versuch, die eigenen, ungelösten Haushaltsprobleme zu lösen. Er scheiterte damit.

Pandemie nicht im Griff

Hinzu kommt die in Spanien wie nirgends sonst in Europa zuschlagende zweite Welle des Coronavirus: Es gibt täglich bis zu 10 000 Neuinfektionen, besonders in der Region Madrid. Glaubt man den Meldungen in den Medien, so sind die Krankenhäuser bald wieder am Limit, die Gesundheitsämter mit dem Erfassen und Nachverfolgen der Infektionen ebenfalls. Gastronomie und Hotellerie sind noch in Betrieb. Nur: Anders als bei uns werden die Gäste in Bars, Bistros und Restaurants kaum einmal aufgefordert, Adresse, Handynummer und Dauer des Besuchs festzuhalten. Ergo: Die Dunkelziffer dürfte erheblich höher sein. Statt zu kooperieren, ergehen sich Regional- und Zentralregierung in gegenseitigen Schuldzuweisungen.

Drittens die Parteienkrise: Man würde sich in einer solchen Lage eine schlagkräftige und zur Regierungsübernahme bereite Opposition wünschen. Während Ciudadanos bei der letzten Wahl von 57 auf 10 Parlamentssitze geschrumpft ist, versinkt die konservative Volkspartei PP – nach dem Skandal um ihre schwarzen Kassen (sogenannte Gürtel-Affäre) – erneut im Sumpf von kriminellen Machenschaften: Diesmal (sogenannte Kitchen-Affäre) haben frühere Minister des PP eigene Schatzmeister und sonstige «Verdächtige», die der Partei vor Gericht schaden könnten, im Stile eines hispanischen Watergate ausspionieren lassen – auf Staatskosten, versteht sich.

Viertens die Justizkrise: Die Unfähigkeit zum Kompromiss zwischen PSOE und PP hat dazu geführt, dass Neubesetzungen von Richterstellen an zentralen Gerichten, u. a. am spanischen Verfassungsgericht (Tribunal Constitucional), seit zwei Jahren nicht vom Fleck kommen. Der Staatsanwaltschaft werfen die Oppositionsparteien Korruption vor, weil sie sie sich weigert, die Regierung wegen des fatalen Krisenmanagements in der Corona-Pandemie anzuklagen. Zum Eklat kam es Ende September, als die Zentralregierung König Felipe die Erlaubnis verweigerte, wie in früheren Jahren in einer Feierstunde den jungen Richtern und Richterinnen aus Katalonien ihre frisch erworbenen Urkunden auszuhändigen. Angeblich zum Schutz des Monarchen.

Wie soll Europa reagieren?

Aus dieser prekären Lage können sich die Spanier nur selber befreien. Das wird aber Zeit beanspruchen. Und es braucht dafür Persönlichkeiten in Wirtschaft und Politik mit Rückgrat. Wie soll Europa mit Spanien umgehen? Der European Recovery Fund (europäischer Wiederaufbaufonds) soll bekanntlich den besonders von der Covid-19-Krise betroffenen EU-Mitgliedsstaaten wieder auf die Beine helfen, vor allem wirtschaftlich. Zu diesen Ländern zählt zweifellos Spanien. Die Frage ist allerdings, ob das Land auf den zukünftigen erheblichen Mittelzufluss – man spricht von 80 bis 100 Milliarden Euro für 2021 und 2022 – überhaupt genügend vorbereitet ist; das muss bezweifelt werden.

Daher ist ein schneller und massiver Mittelabfluss aus (und mit Kontrolle durch) Brüssel nicht verantwortbar. Die EU hat nämlich die oben geschilderte Gemengelage in Spanien bisher wenig bis gar nicht erkannt. Möglicherweise braucht es daher Organisationen wie die Weltbank oder den Internationalen Währungsfonds, um sicherzustellen, dass zunächst sinnvolle Projekte identifiziert, geplant und erst dann mit EU-Mitteln gefördert werden, um anschliessend evaluiert zu werden. Vermutlich ist die Suche danach gar nicht so schwierig: Es bietet sich offenkundig an, zuerst das notleidende Gesundheitssystem zu stabilisieren und möglichst resilient gegen weitere Schocks zu machen. Spanien ist noch kein «failed state», aber es ist nicht mehr weit davon entfernt. Grund genug, dass Europa endlich aufwacht.

Friedrich L. Sell ist em. Professor für VWL, insbesondere Makroökonomik und Wirtschaftspolitik am Institut für Ökonomie und Recht der globalen Wirtschaft, Universität der Bundeswehr München.